Lothar Glauch.
 
Fachjournalist - Data Analysis. Data Ethics. Medientheorie.





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Denn eine Straße ist immer unterwegs [Kulturation 1/2003]
"Grenzgänger. Wunderheiler. Pflastersteine" von Annett Gröschner und Olaf Lippke


Eine Neuerscheinung kann man den 450-Seiten-Schmöker nicht gerade nennen: Die erste Auflage der Geschichte der Gleimstraße erschien bereits 1998. Zugegeben, seither hat sich vieles in der Gleimstraße verändert, insbesondere die Unterhaltungsindustrie hat mit der Max-Schmeling-Halle und dem CinemaxX-Colosseum-Komplex zwei überregionale Attraktionen geschaffen. Der vordere Teil der Straße hat sich in eine Ausgehmeile mit immer neuen Kneipen und Restaurants verwandelt, die nicht nur lokales Publikum anzieht.

Das freilich ist nur die Oberfläche. Die Autoren des Buches “Grenzgänger. Wunderheiler. Pflastersteine” – Annett Gröschner und Olaf Lippke – setzen sich gar nicht das Ziel, den Status quo zu ergründen, etwaigen Moden hinterherzurennen oder die Fluktuation von Geschäften zu erforschen. Jenseits jedes feuilletonistischen Gewäschs untersuchen sie mit wissenschaftlicher Präzision die Geschichte der Straße, von den stadtplanerischen Anfängen über die blutige Schlacht um Berlin im Zweiten Weltkrieg, den steten Fortbau der Grenzanlagen am Gleimtunnel bis hin zu deren Dekonstruktion in der Nachwendezeit.

Wissenschaftlichkeit soll aber keinesfalls heißen, dass die einzelnen Beiträger trocken Fakten und Jahreszahlen herunterleiern. Viele Bilder, Anwohnerstimmen, Alltagsgeschichten geben dem Gegenstand der Betrachtung bunte Facetten. Die Verwendung solcher Facetten ist im übrigen eine praktikable Methode, um sich einer Straße zu nähern. Denn naturgemäß sträubt sich eine Straße wie die Gleimstraße mit ihren 180 Jahren Geschichte gegen eine einfache und stringente Umschreibung. Dieses Grundproblem wird im Geleitwort mehrfach aufgegriffen:

“Die Geschichte einer Straße zu erzählen, ist etwas Besonderes. Ganz anders als etwa Biographien, in denen die Entwicklung einer Person das erzählerische und historische Geflecht bestimmt, ist die Vita einer Straße ein komplexeres Gebilde. Abgesehen von ihrer Bausubstanz umfaßt sie eine Fülle von Ereignissen, an Schicksalen und Erlebnissen ihrer Bewohner, Besucher und behördlichen Verwalter, daß es beinahe unmöglich erscheint, sie irgendwie zu fassen.” (S.11)

Dennoch gelingt es. Die “Geschichte” setzt sich letztendlich immer aus “Geschichten” zusammen, und wie bei einem Puzzlespiel kann der Leser hier ein eigenes Bild zusammenfügen. Es gibt packende Geschichten wie den Einmarsch der sowjetischen Truppen im April 1945, die sich fast wie ein Roman lesen lassen. Man taucht ein in das Szenario des hart umkämpften Stadtteils; der wochenlange Häuserkampf mit unzähligen Rückeroberungen auf beiden Seiten ist von schier nackenhaarsträubender Dramatik.

Ein weiteres Glanzstück ist der Aufbau der Grenzanlagen am Gleimtunnel. Das Wohngebiet in direkter Mauernähe wurde so mit den Jahren zur okkulten Randlage des Sozialismus (und blieb es auch nach 1989 noch eine lange Zeit) – für diesen toten Winkel galten Zuzugsbeschränkungen.

Eher lustig zu nennen ist die bis ins Jahr 1866 zurückgreifende Erzählung des Bürgerprotestes gegen die Errichtung einer sogenannten Poudrettfabrik, in der die Fäkalien zu “Mistpulver” weiterverarbeitet werden sollten, bis auch die neu erschlossenen Wohngebiete mit der Kanalisation verbunden werden würden. Da begegnet man einem Berlin, dass in der Tat noch das “Dorf” war, von dem Spötter heute so gerne sprechen.

Das Buch ist unterteilt in fünf Unterkapitel. Jedes thematisiert einen anderen Aspekt der Straßengeschichte: Öffentlicher Raum, Zwischenraum, Verborgener Raum, Verschwundener Raum und Getrennter Raum. Abgerundet wird die Dokumentation mit vielen historischen Fotografien und einer üppigen, 51-seitigen Chronik der Gleimstraße.

Der BasisDruckVerlag zeigt mit “Grenzgänger. Wunderheiler. Pflastersteine” einmal mehr seine herausragende Rolle in der Publikation der Berliner Alltags- und Sozialgeschichte. Nein, von der üblichen Herrschaftsgeschichte kann hier nicht die Rede sein. Wenngleich ein kleines Defizit erwähnt sein soll: Der Gleimtunnel, der über vier Jahrzehnte den Ostteil vom Westteil trennte, hätte eine vergleichende Sozialgeschichte der beiden politischen Systeme möglich gemacht, aber leider fällt hier die Analyse zumeist knapp aus. Andererseits, muss dem Leser immer die Schlussfolgerung in den Mund gelegt werden?





online abrufbar unter:

www.kulturation.de



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