Lothar Glauch.
 
Fachjournalist - Data Analysis. Data Ethics. Medientheorie.





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Zwischen Dürfen und Wollen
"Hochzeitsvorbereitungen" von Marcus Braun


Nein, man mag dieses Buch nicht so leicht aus der Hand legen. Marcus Braun versteht es, die Sprache zu biegen und nach seinen Vorstellungen zu formen, in einer Virtuosität, wie sie nur wenige Autoren seines Alters beherrschen. Raffiniert verquickt der 32jährige ungewohnte Bilder und Assoziationen mit einer an sich simplen Thematik: Den Alltag eines Zivildienstleistenden. Dieser starke Kontrast von Form und Inhalt ermöglicht es, die Stimmungen und Gestimmtheiten der Romanfiguren auf eine kurzweilige - wie kuriose - Weise vorzuführen, immer mit diesem perspektivisch versetzten, doppelten Blick. Die schöne Dedé etwa spaziert folgendermaßen durch den Romananfang:

"Dedé ist groß, sehr groß, und sie trägt hohe Schuhe. Mit diesen Nuttenstiefeln betreten Sie nicht noch einmal das Krankenhausgelände. Die Hälfte ihrer Gene sind westafrikanischen Ursprungs."

Eine Passage wie diese ist symptomatisch für den leicht unterkühlten Ton, der in "Hochzeitsvorbereitungen" vorherrscht. Anstelle die Gelegenheit zu nutzen und eine feurige Exotik auszumalen, bleibt Braun nüchtern und weist der Genetik alle Urheberschaft in Sachen Schönheit oder Eleganz zu. Die vorherrschende Rationalität aber wird immer wieder von dem trockenen Krankenschwesternhumor, den Ärzte- bzw. Patientenwitzen durchbrochen, ja mitunter entsteht eine Situationskomik, die dem Slapstick verwandt ist. Gelegentlich fügt Braun sogar selbstironische Kommentare über grammatische oder rhetorische Wendungen in den Text ein:

"Freitags kostet alles nur die Hälfte. Jedenfalls wenn man sich im Black Current befindet, einer Disko am Rheinufer. Es gibt weder Brücken noch Staustufen in der Nähe, und den Eintrittspreis kann man mit Hilfe von fünf gelben Märkchen, aus denen die Eintrittskarte besteht, und dem Zuzahlen entsprechender Beträge ganz vertrinken. Etwas an diesem Satz stimmt nicht, da ist ein Trick dabei."

Womit er eine Art Metatext erschafft, bestehend aus den Reflexionen des Autors, der mit dem Ich der Erzählung nicht zur Gänze identisch ist, obwohl er das mitunter behauptet. Leon der Autor kommentiert dann Leon den Romanhelden – eine wunderbar vergnügliche und auch charmante Methode, es macht Freude, dieser feinen Differenz nachzugehen. Aber: So eindrucksvoll dieses Sprachfeuerwerk ist, so lethargisch und lustlos erscheint schnell der transportierte Inhalt. Braun hier einen Lapsus zu unterstellen, griffe viel zu kurz. Dieses Gelangweiltsein ist vielmehr als Attitüde der Romanfiguren erkennbar. Durch diese Selbstvergessenheit schimmert das eigentliche Thema des Buches hindurch: Die Diskrepanz von Dürfen und Wollen.

Den Freunden Leon und Kranach begegnet man eingangs bei heiteren bis kuriosen Jugenderinnerungen. Mädchen, Parties, Konzerte, den ersten Vollräuschen. Dann folgt als Kontrast ihre Einweisung in ihre Aufgaben als Zivildienstleistende. Dass nun aber eine neue Lebensphase anbräche – weit gefehlt! Eigenartig affektlos treiben sie durch ihr Leben, zwischen Krankenschwestern und Patienten verlängern sie die Oberstufe um ein paar Monate.

Mitunter wirkt ihre Lakonie so entwaffnend, dass man um die einfältige Frage nicht umhinkommt: Sind Leon und Kranach nun Helden, oder doch Antihelden? Sind sie als Wehrdienstverweigerer mit Existenzfragen konfrontiert, die ihre ganze Menschlichkeit fordern? Nein. Oder doch nur feige Warmduscher, Deserteure gar? Ebenfalls nein, denn in ihrem Zivilleben zeigen sie sich durchaus risikofreudig: Da kommt es schon mal zu Beinahe-Verkehrsunfällen und zu surrealen Prügeleien im Rausch. Oder sind sie einfach nur Jedermanns?

Braun stellt diese Fragen nicht, und so bleiben auch seine Figuren eine Antwort schuldig. Sie zeigen ein frappantes Desinteresse an allen über das Jetzt hinausreichenden Ideen, ebenso eine auffallende Scheu vor Selbstdefinitionen oder Weltbildern jeglicher Art. Statt dem üblichen spätpubertären Philosophieren über das Weltganze oder dem bierseligen Erörtern der politischen Lage beschränken sich Leon und Kranach auf den kleinsten gemeinsamen Nenner: Die bezaubernden Vorder- oder Rückansichten der Mädchen, die Erprobungen im Flirt, inklusive dem mal exaltierten, mal abgeklärten Gebaren der Krankenschwestern. Diese Beschreibungen verleihen Brauns Buch eine ganz besondere Authentizität, eine Ehrlichkeit, die mitunter schon selbstdenunziatorisch wirkt.

Nachdem die sogenannte Pop- und Partyliteratur am 11. September 2001 mit klarer Sollbruchstelle ein jähes Ende gefunden hat, dämmert nun am Horizont immer deutlicher das neue Zauberwort der "jungen deutschen Literatur" herauf: Realismus, gerne auch Neuer Realismus, wobei man auf Bestseller wie Frank Goosens "Liegen lernen" verweist. Bei Braun ist dieser thematische Übergang ebenfalls zu erkennen. Seinen letzten Kurzroman "Delhi" etwa hat er stilistisch gänzlich anders aufgezogen: Ein Feuerwerk an Fiktion, von Imagination und Traum. Die Protagonisten in "Hochzeitsvorbereitungen" hingegen operieren im zeitlichen, kontextuellen Nichts. Zeigen Utopieresistenz, Zukunftslosigkeit. Frönen dem bloßen, ungeschönten Dasein, der altgedienten Existenz. Um doch gelegentlich für etwas Abwechslung zu sorgen, müssen dann eben die Sexualpartner als Unterhalter herhalten. Sie sind Objekte des Zeitvertreibs, Erfahrungsspenderinnen, Herzschrittmacher des lahmenden élan vital. Und wenn man von einer Sorte Frau genug hat, dann – zappt man eben weiter!

Liebe als Lebensinhaltsersatz, das wirkt wie eine Droge. Aber den Pathos im Stile einer "Selbstverwirklichung durch Liebe" sucht man ebenso vergeblich. Orientierungslosigkeit und seelische Obdachlosigkeit grassieren, die Protagonisten lassen sich vom Schicksal treiben, sind ganz Fluss ihrer eigenen Begierden geworden. Das allerdings macht sie auch so lebendig, so erfrischend fleischlich und gibt ihnen eine "Ehrlichkeit", und spätestens hier verdient Braun tatsächlich das Etikett "Realismus", bzw. noch trefflicher: "Authentizismus".

Unter der mal ironischen, mal lakonischen Oberfläche lässt sich auch viel Hilflosigkeit ausmachen. Betäubung in Alkohol und Drogen, stumme Schreie nach Verstandensein oder wenigstens Gehörtwerden. Kurzum, glücklich macht uns Braun mit seinem "Anything goes" nicht. Um so verblüffender, dass er uns dann am Ende, wenn niemand noch die große Wendung erwartet, ganz überraschend von dieser Ziel- und Zukunftslosigkeit wegführt und einen Reifungsprozess aufzeigt: Erst auf den letzten Seiten erschließt sich der Titel des Buches. Der Text selbst verrät nicht, ob die Nähe zu Kafka gewollt ist oder nicht, allerdings mag hier durchaus auf dessen "Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande" angespielt werden. Und die Provinz, in der Brauns Charaktere ihren Ausschweifungen frönen, würde zu dem Interieur des Ländlichen sehr wohl passen. Kafka, der Spezialist für Bindungsschwierigkeiten, wie seine teils anrührenden Versuche zur Heirat mit Felice Bauer verrieten, findet in Leon allerdings einen weit wagemutigeren Nachfolger, der Risiken nicht scheut und Ausreden nicht gelten lässt.

Ohne zuviel vorweg nehmen zu wollen, der spontane Entschluss von Leon zur Heirat wirkt wie eine weitere Attitüde, wie ein erneutes Spiel mit dem Zufall – anscheinend ist in einer Welt des uneingeschränkten Dürfens der Zufallsgenerator die letztmögliche Autorität, der es sich zu unterwerfen lohnen würde. Hoffnungsvoll stimmt aber, dass zuletzt das Dürfen dann doch noch einem Wollen weicht. Eine Willensbekundung. Ein Standpunkt, und nicht nur ein Neben-sich-Stehen.





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