Lothar Glauch.
 
Fachjournalist - Data Analysis. Data Ethics. Medientheorie.





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PORTRAITS:

· Alban Nikolai Herbst I
· Aris Fioretos
· Alban Nikolai Herbst II

Der eine, der andere
Ein Portrait von Aris Fioretos, anlässlich des Fests der Paten 2005 im Salon Britta Gansebohm


Der eine Aris Fioretos hat Hände, wie sie Auguste Rodin in Stein hätte meißeln können: Lang, filigran, sehnig. Wäh-rend die marmornen Finger von Rodins Skulptur "Die Hand Gottes" behutsam einen Menschen umschließen, müssten die von Fioretos statt dessen einen Schädel halten, oder besser noch: ein Gehirn.

Der Vorgang des Schreibens schließt bis auf den heutigen Tag vornehmlich drei Medien ein: Gehirn, Hand und Schriftstück. Thematisch aber finden diese Medien selten Niederschlag in der Literatur. Unter den zeitgenössischen Autoren fällt mir auf Anhieb nur einer ein, dessen Texte derart viel zerebrales Sediment enthalten: Aris Fioretos, der nicht nur mit, sondern insbesondere über die graue Substanz schreibt.

Auf dem Foto, das ihn auf dem Einband seines Buches "Die Seelensucherin" zeigt, schiebt er seine linke Hand vor die linke Gesichtshälfte, welche nahezu vollständig dahinter verschwindet. Ein Versteckspiel, möchte man meinen, hierzu fehlt allerdings das kokette Lächeln. Die Hand, das Hirn - bei Fioretos sind das siamesische Zwillinge.

Was die Fotografie hingegen nicht zeigt, sind die überaus langen Arme, die sich den Händen anschließen. Sie gehören zu einer schlanken und vornehm großen Gestalt, deren Extremitäten auf den ersten Blick ins Nichts führen wollen: Eine raumdurchmessende Figur, wie sie ein El Greco gemalt haben könnte. Als Zeichen ihrer Vergeistigung hatte der auf Kreta geborene Maler alle Körper stets mit extremer Überlänge gezeichnet. Einzig das glaubensselige Antlitz, das El Greco jeder seiner Figuren aufgesetzt hat, fehlt dem Autor.

Im Gegenteil, der eine Aris Fioretos bleibt jedweden Ausdruck von Glauben schuldig. Eher zeichnet sich in seinem Gesicht das ab, was unablässig forscht, sich vergewissert, auch das Bekannte ständig auf neue Ansätze hin überprüft - wach und flexibel also, ein neugierig Staunender und nicht minder ein Skeptiker. Einer, der wenigstens einmal in seinem Leben in die grässlichen Tiefen der Ewigkeit geschaut hat. Aber das ist eine andere Geschichte, das ist die Geschichte des anderen Fioretos. Und der hat keine Hände, und auch kein Gesicht.


Dass mir ausgerechnet El Greco in den Sinn kam, hat eine einfache Erklärung. Obwohl der kretische Maler eigentlich Dominikos Theotokopulus hieß, nannten ihn die Spanier stets El Greco, "den Griechen" - und auch der eine Fioretos ist von der Vaterseite her griechischer Abstammung, von der Mutterseite dagegen österreichischer Herkunft.

Der Vater flüchtete Anfang der 50er Jahre vor der Junta nach Schweden, wo Aris 1960 geboren wurde. Sein unschwedischer Genotyp hat einen nicht minder unschwedischen Phänotyp hervorgebracht, was inzwischen im Feuilleton ausgiebig kommentiert worden ist, wohl weil damit ein zeitgeistiges Phänomen beschworen werden konnte. Ich meine das Phänomen vom Paneuropäer, einem multilingualen und multigenetischen Geschöpf, vielleicht nur vergleichbar mit den ersten Amerikanern während der Besiedlung der Neuen Welt. Was den Eindruck erweckt, als ginge es bei einem Portrait dieses Zeitgenossen um einen Cocktail, bei dem möglichst viele verschiedene Ingredenzien vermengt werden müssen.

Aris Fioretos indes wird über der letzten Passage womöglich die Stirne runzeln. Aber ich bin mir sicher, dass ihn diese Eigenart (nämlich seine eigene Spezies zu sein) bereits von Kleinauf zu einem Anderen gemacht hat. Ich spiele an auf das "Warum bin ich ich, und warum nicht du?" aus Peter Handkes "Lied vom Kindsein". Fioretos hat dieses Motiv in "Mein schwarzer Schädel" sogar auf den Identitätstausch mit jedem beliebigen Menschen ausgedehnt:

"Der senile Mann, der in seinem eingenäßten Krankenhausbett zittert; die Mätresse im Aufzug, ebenso auffällig wie blasiert, unterwegs zum Dachterrassenrestaurant des Kaufhauses; das lachende Kind inmitten seiner farbenfrohen Schaufeln und Förmchen im Sandkasten?" (S.8)

So also träumt sich das Ich aus seinem eigenen rimbaudschen Käfig heraus, und dieses Ich ist dann tatsächlich ein anderer.

Anbei, da es sich so gut in diesen Kontext fügt, sei hier eine Beinah-Anekdote vermerkt: Fioretos scherzte einmal, dass er eines Morgens aus einem Traum mit dem Glauben erwachte, in Wahrheit Durs Grünbein zu sein ...

Doch bevor die leichte Muse mich zum weiteren Anekdotisieren nötigt, will ich noch für einen Moment bei dem Phänomen vom Paneuropäer verweilen. So unschwedisch Aris Fioretos aussieht, für einen homo mediterranis ist er wiederum viel zu hoch gewachsen. Einzig die Pigmentierung von Haar und Augen passt in diese geogenetische Nische.

Der Schwede in ihm verrät sich allerdings doch. In der zurückhaltenden Art etwa, die sich bestens mit dem schweigsamen Naturell der Skandinavier verträgt. Am Überzeugendsten aber repräsentiert er das Schwedische in der Sprache. In Stockholm aufgewachsen, verfasst er seine literarischen Arbeiten auf Schwedisch - auch wenn diese Sprache am wenigsten zu ihm passen mag, wie sein Intimus Durs Grünbein einmal scherzend angemerkt hat. Fioretos lebt in Berlin, und längst ist ihm diese Stadt zum neuen Lebensmittelpunkt geworden, hier hat er, wie er sagt, seine "Jahre der Boheme" verbracht. In Stockholm hingegen wäre ihm solch ein Leben nie möglich gewesen, insbesondere, weil diese (für eine Hafenstadt außerordentlich vornehme) Metropole ganz andere ökonomische Anfordernisse stellt.

Fioretos übersetzte so verschiedene Autoren wie Hölderlin, Nabokov, Auster oder Derrida ins Schwedische, promovierte, habilitierte, arbeitete überdies auf Konferen-zen als Dolmetscher, wo er sich als ein Mittler zwischen den Sprachen und den Kulturen hervortat. Aber er trat auch als Medium zwischen den Disziplinen in Erscheinung, wie etwa der Wissenschaft und den schönen Künsten.

Kurzum, wir treffen hier einem Mann, der gerne zwischen den Stühlen sitzt, der die intellektuelle Flexibilität und die Mehrdimensionalität dem Purismus einer einzigen Disziplin vorzieht. Dass er jüngst als Kulturrat der Schwedischen Botschaft in Berlin berufen wurde, mag ihm einmal einen festen Platz zuweisen - ein festes Koordinatensystem also. Für ihn aber ist dieser Posten, um im Bilde zu bleiben, trotz alledem ein Drehstuhl.

Man möchte vermuten, eine mehrsprachige Erziehung müsse bleibende Spuren in der Artikulation des Deutschen bewirken. Was auffällt, ist allenfalls seine leise Stimme, die niemanden zu nahe treten will, die flüsternd und mitunter zögerlich nach Worten sucht, deren jedes Einzelne etwas Neues, Eigenes zum Ausdruck bringt. Eine weiche Stimme, vornehm und zuvorkommend, geradezu um Sympathie werbend. Den vermittelten Inhalten zum Trotz, möchte man meinen, denn diese sind oftmals sehr abstrakt und nicht leicht zu entschlüsseln. Es muss hier von einer "zerebralen Literatur" gesprochen werden, so wie sie seinerzeit Paul Valéry in "Monsieur Teste" auf halbakademische, halbpoetische Weise praktizierte. Mitunter ist diese Prosa derart gehirnlastig, dass Fioretos bei Lesungen selbst vorn-weg ebenso charmant wie beschwichtigend erklärt: "Dieser Abend wird kein Tanz auf Rosen".

An dieser Stelle sind wir der Gemarkung schon sehr nahe gekommen. Es ist an der Zeit, die Grenze zu überschreiten. Der Übergang, dort, wo Außen und Innen sich scheiden. Verlassen wir also den einen Fioretos und widmen uns seinem ungleichen Double. Dem konfliktreichen, schwierigen und durchaus nervösen Charakter.

Dieser andere Fioretos nämlich hält sich seit seiner Geburt versteckt. Was kein Wunder ist und wozu es auch keinerlei Tarnkappe bedarf, denn zum Einen ist er nur wenige Kubikzentimeter groß und wiegt etwas mehr als ein Kilogramm. Aber selbst wenn er sich zeigen wollte, er könnte es nicht, es sei denn, er riskierte seinen sofortigen Tod: Der andere Fioretos ist unter einem schalenförmigen Knochengewölbe verborgen, umströmt von der nährenden Lymphe, die ihm sein Überleben sichert.

Nicht zufällig bezeichnet sich dieser andere Fioretos als Kranionauten, eine Wortschöpfung, die er selbst für seine Existenzform geprägt hat, da er sich als einen Forschungsreisenden im eigenen Kranium begreift, der sich kraft seiner Gedanken durch Gehirnwelten bewegt, ohne auf physikalische Weise auch nur einen Millimeter Raum zu gewinnen. Ein Astronaut im Kosmos der Innenwelt, des eigenen Schädels also (Novalis fragte: "Ist denn das Weltall nicht in uns?).

Von diesem Kranionauten sind im übrigen weniger Freundlichkeiten zu erwarten denn blitzsaubere, affektlose Analysen in chirurgischer Präzision. So sind seine Romane zugleich auch fiktionale Sachbücher, psychologische Verhaltensstudien, oder, um mit Fioretos´ eigenen Worten zu sprechen: Bewusstseins-Fahrtenschreiber. Die minutiösen Innenbeobachtungen machen ihn zu einem Repräsentan-ten der neuen Innerlichkeit, welche die stets auf Äußerlich-keiten konzentrierte Spaßliteratur abzulösen scheint.

Literatur hat seit jeher entblößt, war seit jeher exhibitionistisch. Anno 2004 ist der Fokus auf die Innerlichkeiten und Grübeleien der neuen Nachdenker und Reflektoren gerichtet worden - und der andere Fioretos ist einer ihrer führenden Köpfe.


Um eine eher persönliche Frage komme ich bei diesem Portrait allerdings nicht umhin: Warum ist es mir bisher kaum gelungen, mit Aris Fioretos auf die sanguinische, die zwischenmenschliche Weise so richtig warm zu werden? Fehlende Sympathie? Die stets zu eng bemessene Zeit? Die für viele Autoren so charakteristische Menschenscheuheit, die ich für mich selbst durchaus geltend machen muss?

Oder vielleicht auch, weil dieser andere Fioretos seiner biologischen Natur wegen jegliches Blut als Trägersubstanz des Temperaments entbehren muss? Denn Letzteres macht ihn zweifelsohne zum Kaltblütler, wie er selbst schreibt, zu einem, der stets darauf geeicht ist, immer einen klaren - und kühlen - Kopf zu bewahren.

In einem seiner zahlreichen Essays befasst er sich ausführlich mit dem "sang froid", jenem dem Englischen ent-lehnten Begriff, der sowohl Gelassenheit als auch Kaltblütigkeit meint (die amerikanischen Freunde würden sich vermutlich mit "Coolness" bescheiden). Und jetzt nur einmal angenommen, ein solcher cooler Kranionaut würde mit jemanden warm werden, wie würde es ihm wohl dabei ergehen? Er dürfte sich, wenn mir hier einmal ein ironischer Vergleich erlaubt ist, vermutlich fühlen wie ein Hummer im Whirlpool.

Diese Kaltblütigkeit aber darf man auf keinen Fall mit Kaltherzigkeit verwechseln. Das Zerebrum mag per se wenig Mitgefühl kennen, viel eher herrschen hier Strategie, Systematik, Effizienz vor. Diese Gehirnlastigkeit muss auf Kosten der Emotionen gehen: Affekte werden negiert oder bestenfalls psychologisch gedeutet - und damit dressiert und kontrolliert, ja mitunter, in ironischer Brechung, auch parodiert oder kolportiert.

Doch hinter dieser kühlen Wand des "sang froid" herrscht deshalb nicht selten eine extreme Isolation, etwas, das Robert Musil trefflich wie folgt beschrieben hat: "Ist nicht jedes Gehirn etwas Einsames und Alleiniges?" Um diese Isolation zu durchbrechen, hilft oft nur eines: Worte zu suchen, die sich an andere Gehirne wenden. Und mag dieser Vorgang des Aufschreibens auch ganz ohne Zuhilfenahme vom "human touch" erfolgen, heißt das noch lange nicht, dass er jedwede Zärtlichkeit entbehren muss.

Nein, keinesfalls. Denn gerade durch diese kategorische Trennung entsteht im günstigsten Fall eine weit größere Intimität, als sie durch physische Nähe je hätte möglich sein können. Wie etwa bei Aris Fioretos, wenn ich seine Gedanken lese, ja, wenn ich vom schlichten Leser seiner Worte zu seinem Gedankenleser werde. Und womöglich auch ihn, wie in diesem kurzen Portrait, zum Leser meiner sonderbaren Gedanken gemacht habe ...




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